Zur Frage der missbräuchlichen Berufung (Sperrberufung) durch die Staatsanwaltschaft

Unsere Mandantin wurde in einem Strafverfahren vor dem Amtsgericht Pirna (Sachsen), 143 Js 59618/13, wegen fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt.

 

Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer eine höhere Geldstrafe, Herr Rechtsanwalt Philipp Berger - als Verteidiger der beschuldigten Mandantin - Freispruch beantragt. In Absprache mit unserer Mandantin legten wir Rechtsmittel gegen das Urteil ein, ohne dass damit eine Festlegung auf Berufung oder Revision bereits verbunden ist. Dieses Vorgehen ist zweckmäßig, weil - in aller Regel - innerhalb der nur einwöchigen Rechtsmittelfrist die schriftliche Urteilsbegründung und das Verhandlungsprotokoll noch nicht vorliegen und damit der Rechtsmittelführer bei Fristablauf (eine Woche nach mündlicher Urteilsverkündung) nicht abschließend beurteilen kann, welches Rechtsmittel - Berufung oder Revision - zweckdienlicher ist. Die konkrete Festlegung darf daher erfolgen, wenn die Urteilgründe vorliegen (gemäß § 275 Strafprozessordnung (StPO) fünf Wochen oder später nach mündlicher Urteilsverkündung).

 

Durch die Berufung wird dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben, vor einem Gericht höherer Instanz (Landgericht) das gesamte Verfahren noch einmal neu verhandeln zu lassen. Stellt der Beschuldigte einen Antrag nach § 325 Strafprozessordnung (StPO) erfolgt für die Berufungsverhandlung die neuerliche Vorladung der Zeugen und Sachverständigen, die bereits vor dem Amtsgericht ausgesagt hatten. Das Landgericht wird damit für den Beschuldigten zur „2. Erstinstanz“; Tatsachen, Beweise und die damit verbundenen Rechtsfragen werden noch einmal vollständig gewürdigt und überprüft und gegebenenfalls durch das Berufungsgericht anders als vor dem Amtsgericht entschieden.

 

Durch die Revision wird das amtsgerichtliche Urteil nur auf Rechts- und das dem Urteil zugrunde liegende Verhandlungsprotokoll nur auf Verfahrensfehler überprüft. Der Sachverhalt und Tatsachenfragen („ist der Beschuldigte auch wirklich der Täter“) werden nicht mehr in Frage gestellt. Das Revisionsgericht würdigt lediglich die Schlussfolgerungen des Amtsgerichts auf ihre innere Logik („Widersprüchlichkeit“) und misst den Verfahrensgang („welche Beweise wurden erhoben“ und „durften diese Beweise dem Urteil zugrunde gelegt werden oder bestanden für sie Erhebungs- oder Verwertungsverbote“) anhand der Strafprozessordnung (StPO).

 

Weil ein Berufungsurteil wiederum vermittels einer Revision überprüft werden kann - gegen ein Revisionsurteil jedoch kein weiteres, ordentliches Rechtsmittel möglich ist - besteht für den Beschuldigten immer dann ein Interesse an einer sofortigen revisionsrechtlichen Überprüfung seines erstinstanzlichen Urteils, wenn der Sachverhalt unstreitig ist. Denn dann ist nicht die Rechtsansicht des Berufungs- sondern die des Revisionsgerichts - als höchstmöglichstes Fachgericht - maßgeblich („Ober sticht Unter“), § 355 StPO.

 

So lag unser Fall in Pirna: Die Mandantin fuhr mit ihrem PKW einen Menschen, der bei Dunkelheit an unübersichtlicher Stelle eine vierspurige Bundesstraße zu Fuß querte, tot, ohne dass unsere Mandantin die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte.

 

In rechtlicher Hinsicht geht es einzig um die Auslegung (§ 222 Strafgesetzbuch) oder um die Interpretation bzw. Fortentwicklung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung. In diesen Fällen hat der Beschuldigte wie auch die Allgemeinheit - vertreten durch den Rechtsstaat - ein Interesse daran, direkt das höchstmögliche Gericht anzurufen, um eine abschließende, verbindliche Klärung herbeizuführen. Denn die Rechtsordnung gebietet es, dass die unteren Gerichte nicht auf unklarer und widersprüchlicher Grundlage urteilen.

 

Und dennoch hat die Staatsanwaltschaft Dresden im vorliegenden Fall beim Amtsgericht Pirna - ohne die Urteilsgründe abzuwarten - Berufung eingelegt und damit das Verfahren zwingend der Revision entzogen (Sperrberufung).

 

Staatsanwälte verteidigen die Interessen der Allgemeinheit (Rechtsstaat) und in dieser Funktion wird von ihnen verlangt, die Wertungen des Gesetzgebers umzusetzen und zu respektieren. In den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV), also den internen Dienstanweisungen für Staatsanwälte, wird ausgeführt, wie sich Staatsanwälte zu verhalten haben, um ihrem Amt gerecht zu werden. Im Hinblick auf die Einlegung von Berufungen findet man in Nr. 147 RiStBV folgendes:

 

Rechtsmittel des Staatsanwalts

 

(1) Der Staatsanwalt soll ein Rechtsmittel nur einlegen, wenn wesentliche Belange der Allgemeinheit oder der am Verfahren beteiligten Personen es gebieten und wenn das Rechtsmittel aussichtsreich ist. Entspricht eine Entscheidung der Sachlage, so kann sie in der Regel auch dann unangefochten bleiben, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Zur Nachprüfung des Strafmaßes ist ein Rechtsmittel nur einzulegen, wenn die Strafe in einem offensichtlichen Missverhältnis zu der Schwere der Tat steht. Die Tatsache allein, dass ein anderer Beteiligter ein Rechtsmittel eingelegt hat, ist für den Staatsanwalt kein hinreichender Grund, das Urteil ebenfalls anzufechten (…).

 

Danach sollte man annehmen dürfen, dass Staatsanwälte äußerst zurückhaltend mit der Einlegung von Berufungen sind. Das Gegenteil ist der Fall: In der Praxis vieler Staatsanwaltschaften ist es üblich, immer dann, wenn der Beschuldigte Rechtsmittel einlegt, selbst Berufung einzulegen. Die Berufung dann zumeist lapidar in einem Satz und mit einer Floskel begründet:

 

„Das Strafmaß wird dem Unrechtsgehalt der Tat und der Persönlichkeit des. Angeklagten nicht gerecht.“

 

Was steckt dahinter? Dem Beschuldigten soll es so schwer wie möglich gemacht werden sein Recht zu suchen! Denn mit der Berufungseinlegung der Staatsanwaltschaft verliert der Beschuldigte automatisch sein Recht darauf, dass die Urteilsüberprüfung in der Berufungsinstanz nicht auch schlechter für ihn ausfällt (Verböserungsverbot).

 

Zudem wird eine Sprungrevision verhindert und somit wird der Beschuldigte gezwungen, eine zweite Tatsacheninstanz durchzufechten. Das hat zur Folge, dass der Beschuldigte gegebenenfalls - da das Verböserungsverbot nicht gilt - mit einem schlechteren Ergebnis rechnen muss. In jedem Fall wird der Prozess erheblich teurer, da für die Berufungsinstanz zusätzliche Gerichts- und Verteidigerkosten anfallen und der Beschuldigte für letztere in Vorleistung treten muss. Und natürlich geht auch ein erhebliches Maß an Zeit verloren. Besonders Unternehmern, gegen deren Organe (Geschäftsführung) vorgegangen wird, erleiden somit – unabhängig vom Verfahrensausgang – einen erheblichen, wirtschaftliche Nachteil.

 

Vor diesem Hintergrund sind wir der Ansicht, dass derartige Sperrberufungen rechtsmissbräuchlich und damit im Ergebnis unbeachtlich sind. Ein Missbrauch prozessualer Rechte ist anzunehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die StPO eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner verfahrensrechtlichen Belange benutzt, um gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Ziele zu verfolgen.

 

Ein prozessual möglicher Ansatzpunkt, diesen Rechtsmissbrauch aufzudecken liegt in der entsprechenden Formulierung eines Beweisantrages, den zuständigen Staatsanwalt über seine Motive für die Berufung zu vernehmen. Soweit diesem Beweisantrag nicht nachgegangen wird und soweit der entsprechende Ablehnungsbeschluss des Berufungsgerichts fehlerhaft erfolgt, besteht die Möglichkeit, eine Revision auch auf diesen Aspekt zu stützen.